Den bortkomne sauen

Die Ersten werden die Letzten sein. Dieser Satz ist hier wirklich zutreffend. Denn Bild Nr. 1 aus Myriades März-Impulswerkstatt kommt bei mir nun an letzter Stelle.

© Myriade

Als „Titelmelodie“ dazu habe ich ein Lied aus der Telemark ausgewählt. Das passt mir insofern gut in den Kram, als ich diesen Monat bereits einen Beitrag mit dem Titel Säule hatte, bei dem es aber nicht um eine Säule, sondern um kleine Schweinchen ging. Beim heutigen Titel wiederum geht es nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, um irgend einen Schweinkram oder eine Sauerei, sondern um ein verlorenes Schaf. Im Liedtext sucht der Hirte das Schaf, findet es auch und führt es zur Herde zurück – an diesem Punkt dreht der Text dann eine kleine Pirouette und bringt die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn ins Spiel.

Hier nehme ich nun allerdings die wiedergefundene sau als willkommenen Anlass für eine kleine Sprachreise. Die norwegische und die deutsche Sprache haben ja doch einiges an gemeinsamen Wurzeln. Das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass man etliche Wörter gar nicht zu lernen braucht. Um ein tierisches Beispiel zu nehmen: hund = Hund. Etwas gedämpft wird die Freude darüber höchstens dadurch, dass man lernen muss, welche Wörter man nicht zu lernen braucht. 😉 Andere Ausdrücke sind zwar nicht ganz gleich, aber zumindest leicht leseverständlich. Katt og mus = Katze und Maus. Auch beim Esel braucht es keine Eselsbrücke.

Dann kommt aber plötzlich das Schaf daher und versaut den ganzen Spaß. Da könnte man echt sauer werden. Es gibt sogar zwei Schaf-Substantive, nämlich får und sau. Das ist etymologisch ganz interessant, weil es im Altnordischen den Ausdruck sauðr gab, der aber eigentlich ganz allgemein für Schmalvieh verwendet wurde. Zur genaueren Unterscheidung gab es die Ausdrücke geitsauðr (Ziegen) und eben færsauðr (Schafe), was sich später in får und sau zweigeteilt hat. Ein Blick auf einige Komposita zeigt, dass man zwischen får und sau aber nicht einfach beliebig wählen kann. Die Schafherde beispielsweise ist ein saueflokk. Und ein Schäferhund ist ein fårehund und keinesfalls ein sauhund. Die Schafwolle ist sau(e)ull. Es gibt zwar auch den Ausdruck fårull – aber das ist Schwedisch. Alle norwegischen Fleischgerichte tragen ein får und niemals die sau im Namen, z.B. fårefrikassé oder fåresteik. Das noch unverarbeitete Fleisch heißt aber sauekjøtt. Das männliche Schaf kann ein sauebukk (Schafbock) oder vær (Widder) sein. Nun will ich hier nicht auf sämtliche Wortzusammensetzungen eingehen. Dagegen gibt es zum Abschluss noch eine kleine sprachliche Bemerkenswürdigkeit. Der Wolf im Schafspelz wird im Norwegischen ulv i fåreklær genannt – also Wolf in Schafskleidern. 🙂

Und damit zum musikalischen Teil. Das verlorene Schaf ist hier in einer Instrumentalversion zu hören. Und sicherheitshalber habe ich es zwischen zwei ebenfalls norwegische Hütejungen gebettet.


Gjetergutt – Op. 54, Nr. 1
Edvard Grieg

Leif Ove Andsnes • Klavier

Den bortkomne sauen
Trad. Telemark

Annbjørg Lien • Hardingfele
Iver Kleie • Orgel

Gjetergutt – Op. 54, Nr. 1
Edvard Grieg

Göteborgs Symfoniker • Neeme Järvi (Leitung)

6 Gedanken zu “Den bortkomne sauen

  1. Myriade sagt:

    Ah, mit Grieg kann man mich immer erfreuen. Ich erinnere mich, dass ich Fräulein Smila gelesen habe mit griegschen weiten, eisigen Landschaften im Hintergrund, eine bleibende Erinnerung. Schön, dass das Schäfchen hier wieder gefunden wird oder zurückfindet, zumindest hört es sich für mich so an.
    .
    Mit Ethymologie bin ich auch immer zu begeistern. Wie klingt denn ein norwegisches Diminutiv, zB ein Schäfchen? „Saueflokk“ ist ein tolles Wort ! Dass ein Tier anders heißt als sein Fleisch als Gericht für Menschen gibt es ja in vielen Sprachen, das ist nicht nur sprachlich interessant …
    Dass man bei synonymen Wörtern bei den Komposita aber nicht frei wählen kann, ist auch eine Freude für sprachinteressierte Menschen.
    Im Spanischen gibt es zB zum Thema „Oliven“ so eine Situation: es gibt eine arabische und eine lateinische Sprachwurzel und so heißen die Olivenbäume und die Olivenbauern olivos bzw oliveros, die Oliven selbst und das Öl daraus aber aceitunas bzw aceite.
    Alles sehr spannend ! Ich wollte ja gerne isländisch lernen, nur aus Spaß an der Freude, aber auch dadurch hat covid einen Strich gemacht, vorläufig ….
    Vielen Dank für diesen und alle anderen immer gehaltvollen Beiträge zur Impulswerkstatt

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    1. Random Randomsen sagt:

      Lieblichen Dank für dein erfreutes Echo. 🙂
      Ja, der Grieg kam mir hier sehr gelegen, weil er eben diesen „gjetergutt“ aus den Lyrischen Stücken eigenhändig orchestriert hat und ich das verlorene und wiedergefundene Schaf musikalisch hübsch einbetten konnte.
      Als nordische Klangkulisse sehr empfehlenswert sind übrigens auch die „Hundrad folketonar frao Hardanger“ von Geirr Tveitt. Der Komponist schöpft hier aus seinem Klangerbe. Die hundert Stücke hat er auf fünf Suiten verteilt. Leider existiert das Manuskript der dritten Suite nicht mehr. Hier als Kostprobe die Suite Nr. 1

      Eine kleine Sprachexkursion als Ergänzung zur „Tonsprache“ fand ich einfach mal passend.
      Ein Diminutiv kommt in der norwegischen Sprache eigentlich nicht vor – höchstens bei Importen. Bei Bedarf kommt „klein“ („små“ oder „liten“ zum Einsatz). Die „Säule“ wären dann „smågriser.“ Ein Ausdruck wie „Schäfchen zählen“ wird aber zu „telle sauer.“ Hier würde eine Verkleinerung sinnlos wirken.
      Dass man die Komposita so rigoros „entwederodert“ finde ich bei „får“ und „sau“ besonders bemerkenswert, weil ja beide aus dem gleichen Sprachtopf kommen. Dass eine gemeinsame Sprachwurzel sich in verschiedene, genau abgegrenzte Richtungen entwickeln kann, führt ja bei verwandten Sprachen auch zu „falschen Freunden.“ Beispielsweise wird das norwegische „en stund“ (durchaus verwandt mit der deutschen Stunde) für eine Weile verwendet, aber nicht für die uhrzeitliche 60-Minuten-Stunde. Die heißt nämlich „time.“ Da bekommen die „Engländer“ auch noch ihren falschen Freund reingedrückt. 😉
      Isländisch und Färöisch sind höchst zauberhafte und ganz „urnordische“ Sprachen. Ähnliches findet man in einigen norwegischen Dialekten wieder, während die gebräuchlichste Schriftsprache (bokmål) doch sehr „wurzelfern“ ist.
      Mit einem herzlichen Abendgruß 🐻

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  2. PPawlo sagt:

    Das ist eine sehr schöne Hommage für Myriades Schafe! Und mir nichts dir nichts fügst du noch einen sprachlich-wissenschaftlichen Essai hinzu! 🙂 Wahrscheinlich weißt du, warum es zwei verschiedene Worte in einigen Sprachen für Tier und Fleisch gibt? So viel ich weiß: Die einfachen Leute hegten und pflegten die Tiere, die vornehmen aßen dann ihr Fleisch. Im Englisch kann man das gut daran sehen, dass das Volk englisch sprach und die lebendigen Tiernamen sich vom Germanischen ableiten, die gehobenere Sprache leitet sich (durch Römer und Normannen) oft vom Romanischen ab, so wie auch das Fleisch der Tiere. Grieg ist auch immer wieder wunderbar anzuhören! Dir ein frühlingshaftes, erfrischendes Osterfest, Petra

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    1. Random Randomsen sagt:

      Lieben Dank für deine harmonische und facettenreiche Resonanz. 🙂
      Ja, da erwähnst du freilich einen wichtigen Punkt bei der Entwicklung von Wortschätzen: in unterschiedlichen „sozialen Ecken“ entsteht ein ganz anderes Vokabular. Ein Beispiel dafür ist auch der Ausdruck „søye,“ der ebenfalls von der „sau“ abgeleitet ist, aber ganz spezifisch ein erwachsenes, weibliches Schaf bezeichnet. Im Alltagsleben werden wohl nur Schafzüchter den Ausdruck verwenden.
      Mit einem herzlichen Gruß zum zauberhaften Ostersonntag 🐻

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