Wie das Titelbild ganz diskret andeutet, steht heute wieder ein Musikbeitrag auf dem Programm. Allerdings habe ich heute etwas Neues vor. Ich möchte ein musikalisches Werk sozusagen als ‚Bildergalerie‘ präsentieren. Denn genau so, wie ein einzelnes Foto das Sujet nie in seiner Gesamtheit abbilden kann, wird eine einzelne Interpretation nie alles ausdrücken, was in einer musikalischen Komposition angelegt ist. Erst die Abbildung aus verschiedenen Perspektiven vermittelt eine klarere Vorstellung des Sujets.
Zu diesem Zweck habe ich ein Stück von Johann Sebastian Bach ausgewählt. Und zwar den ersten Satz aus der Partita Nr. 2 in c-moll BWV 826. Das ist ein Stück von relativ überschaubarer (bzw. überhörbarer) Länge. Dennoch bietet es – durch drei sehr unterschiedliche Abschnitte – ausreichend Abwechslung, um Unterschiede in der Interpretation zur Geltung zu bringen. Wichtig war natürlich auch, dass es überhaupt genügend verfügbare Aufnahmen gibt, die qualitativ akzeptabel sind und sich von der Interpretation her deutlich unterscheiden. Und dann stellt sich bei Bach ja auch die Frage nach dem Instrument. Ist es legitim, Bachs Werke auf einem Konzertflügel zu spielen, den es in vergleichbarer Form zu Bachs Zeit überhaupt nicht gab?
In den vergangenen Jahrzehnten hat man im Bereich der so genannten historischen Aufführungspraxis enorme Fortschritte gemacht. Durch akribische Quellenforschung und nicht zuletzt auch durch die Verwendung historischer Instrumente ist es möglich, den Klangbildern der alten Meister zumindest auf die Spur zu kommen. Das Ergebnis ist manchmal geradezu unerhört. Aber klingt es nun wirklich so, wie beispielsweise Bach selber das aufgeführt hätte? Dazu hat sich einer der Pioniere der historischen Aufführungspraxis sehr pointiert geäußert:
«Selbst wenn wir uns noch so bemühen, die Noten, die Bach oder Mozart geschrieben haben, auszulegen, wie sie damals verstanden wurden, ist das unmöglich. Das kann man gar nicht. Die Komponisten würden sich schieflachen.»
Nikolaus Harnoncourt
Das ist doch eine klare Ansage. Selbst wenn wir alle Hebel in Bewegung setzen – ein völlig Bach-adäquates Klangbild werden wir also kaum erzielen. Und sogar wenn es uns gelänge, würden wir ja nicht einmal mit Sicherheit wissen, dass es so ist.
Die historische Aufführungspraxis ist zwar eine wertvolle Bereicherung – dennoch kann sie aber noch aus einem weiteren Grund nur eine unter verschiedenen möglichen Interpretationsarten sein. Denn selbst wenn die Musik genau so erklänge wie zu Bachs Zeit – der Kreis schlösse sich nicht, weil schlicht und einfach das historische Publikum fehlt. Selbst ein absolut authentisches Klangbild träfe nicht auf ein adäquates Musikverständnis. Man kann nicht Beethoven, Brahms, Bartók, Blues und Black Metal gehört haben und im Handumdrehen so tun, als gäbe es diese Musik gar nicht. Wer heute eine Bach-Partita hört, kann nicht nahezu dreihundert Jahre Musikgeschichte einfach so ausblenden.
Damit ist klar – es geht bei dieser Galerie nicht um die Frage, welches die ‚beste‘ Interpretation sei. Oder ob die eine Version ‚richtiger‘ sei als die andere. Wie eine echte Bildergalerie soll sie möglichst unterschiedliche Perspektiven zeigen. Um dies zu unterstreichen habe ich jeweils zwischen Klavier- und Cembaloversionen abgewechselt.
Tzvi Erez • Klavier
Trevor Pinnock • Cembalo
Maria Tipo • Klavier
Scott Ross • Cembalo
Glenn Gould • Klavier
Robert Hill • Cembalo
Was wählt man bloß zu so einem Beitrag für ein Klangbild aus? Schwierig. Doch das Glück war mir hold. Da habe ich doch tatsächlich ein Klangbild gefunden, das zum Thema passt und das erst noch ganz neue Eindrücke verspricht.
Klangbild: J.S. Bach • Partita in c-moll BWV 826
Wim Winters • Clavichord
⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐
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🙂
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Ohja … Das macht Spaß. Und da hast du in der Tat ein paar sehr schöne Interpretationen herausgesucht. Und so unterschiedlich. Wenn Musik Pulsadern aufschlitzen könnte, Maria Tipo wäre es gelungen … Ich mag Bach ja, aber ich würd ihn nicht spielen wollen. Nicht wieder spielen wollen. Was hab ich mir bei den Bassläufen die Finger verknotet.
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Vielen Dank für deine klangvolle Resonanz. 🙂 Es ist wirklich erstaunlich, was die verschiedenen Interpreten da aus den Noten zaubern. Da stehen natürlich auch ganz unterschiedliche musikalische Weltanschauungen dahinter (teils möglicherweise zeitgeistgeprägt). Aber für mein Musikempfinden hat jede Version absolut ihre Gültigkeit. Ich habe nichts nur um der Kuriosität willen reingeschmuggelt.
Bach spielen ist ja eine Sache – Bach SO spielen, dass es auch Freude macht (und möglichst auch anderen), das ist ein ganz anderes Geschäft.
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Mir ging es meistens so: Anderen machts Freude, mir nicht. ^^
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Auch nicht ausgewogen. Der umgekehrte Fall ist ja eher häufiger. 🙂
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Nachtrag: Maria Tipo macht auf jeden Fall sehr überzeugend klar, warum SIE für Bach einen Konzertflügel braucht. Ihre Version mag ich nicht zuletzt auch deshalb sehr, weil sie so harmlos anfängt. Erst ab dem Andante wird einem so richtig bewusst, dass hier etwas ganz Außergewöhnliches abläuft.
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Als Freund der sogenannten Alten Musik gefallen mir die Cembalo Versionen besser…alles in allem „weicher“….harmonischer….dynamischer als es mit Klavier möglich ist….
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Ja, die persönlichen Vorlieben sind natürlich entscheidend. Ich mag den sinnlichen Klang des Cembalos sehr, würde aber nie auf die Klavierversionen verzichten wollen. 🙂
Hier noch eine ganz feine Zugabe – die sechs Partiten (auch ein SixBach) mit Christophe Rousset: https://youtu.be/nnY4v4y6mGc
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Sehr schön – für langen Hörgenuss, danke 🙂
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Dauerwelle statt Mikrowelle. 😉
[rein klanglich, versteht sich]
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Scheint so, ja 😀 bei Gefallen in Dauerschleife 😉
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Ha. MUSIK in meinen Ohren… 😀
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Ich mag Interpretationsvergleiche sehr…
hab mal über zwanzig verschiedene Interpretationen der Kreisleriana von Schumann verglichen,
och, DAS waren sooooo diverse Musikwelten, unfassbar!!
Aber hier beim Bach ist es ja auch so: keine zwei klingen auch nur annähernd gleich!
Jede/r spielt Bachs Noten also anders…
DIE Interpretation gibt es somit gar nicht!!!
Mir am nächsten geht die Spielart von Maria Tipo,
von der ich eine Scarlatti-CD habe, die ich fast schon
MAGISCH verehre 🙂
Abendgrüße
vom Lu
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Solche Vergleiche haben m.E. zahlreiche Vorteile. Man lernt, wirklich zuzuhören. Und man lernt das Werk wesentlich besser kennen – auch wenn es einem letztlich in gewisser Weise unbekannter erscheint als zuvor. Und vor allem lernt man auch, sich nicht an einer bestimmten, vermeintlich einzig richtigen Interpretation festzukrallen.
Maria Tipo ist eine Ästhetin durch und durch – ihre sensible Nuancierung in dieser Aufnahme ist einzigartig. Leider gibt es sehr wenige Aufnahmen von ihr. Und die meisten längst vergriffen. Ihren Scarlatti habe ich auch in der Sammlung – dadurch habe ich die Dame erst kennen gelernt.:)
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Ich habe von ihr noch 6 Klaviersonaten von Muzio Clementi Opus 40 und 50,
interpretiert wie von einer anderen Welt…
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Ausgerechnet die Clementi-Aufnahmen kenne ich überhaupt nicht. Obwohl Maria Tipo ja einiges von Clementi eingespielt hat. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass das keine seicht-dümpelnde Angelegenheit ist. 😉
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Da hast du vollkommen recht,
denn Maria Tipo holt aus diesem Clementi um einiges mehr heraus als nur seichte, vor sich hindümpelnde Epigonen-Musik à la Mozart-Beethoven…
Liebe Grüße zur Nacht vom Lu
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Das ist eine erstaunlich variationsreiche Klangreise, obwohl es immer nur eine Musik ist.
Mit gefielen die Klavierversionen besser – das liegt wahrscheinlich nur an meinen Hörgewohnheiten.
Hörte ich öfter CEMBALO, käme ich vielleicht doch noch auf den Geschmack…
Danke, wie immer, für die Erweiterung meines Hörhorizontes!
Abendsonnengrüße von mir zu Dir 🙂
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Ja, die Hörgewohnheiten können eine sehr große Rolle spielen. Anderseits kann es auch vorkommen, dass man bei gewissen Instrumenten nie richtig warm wird. C’est la vie. Aber das Cembalo ist auf jeden Fall ein ganz spannendes Instrument mit einem reichen und vielfältigen Klangspektrum. Es freut mich sehr, dass diese Klangreise so großen Anklang findet. Es schien mir einen Versuch wert, weil man ja solche ‚Galerien’ im Alltag kaum zu hören bekommt und es wirklich eine besondere Erfahrung ist.
Mit einem variationsangereicherten Gruß… 🙂
Kleine Anregung zur näheren Erkundung des Cembalowohlklangs: https://youtu.be/iSXj48lkFew
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Diese Hörüberstunden muß ich auf einen anderen Tag verschieben, Du Schelm.;-)
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Hehe, für schöne Komplimente habe ich immer ein offenes Ohr. 😀
Aber der Zeitpunkt muss schon passen – immerhin dauert der Spaß eine knappe Stunde. Und wenn man das zwei bis drei Mal anhören will… 😉
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Ich möchte mich für diesen wunderbaren Beitrag einfach bedanken! Diese Vielfalt an Interpretationen und das so, dass die eine noch im Inneren nachklingt und die andere gleich folgen kann (also ohne Zwischensuche) und der Unterschied damit deutlicher herauskommt, ist eine ungewohnte Chance !
Allein schon die Möglichkeit des Längenvergleichs offenbart einiges….
Glenn Gould konnte ich in Deutschland nicht hören. Dafür habe ich aber eine interessantes Video dieses Stückes auch bei YouTube gefunden, wo er dieses in ganz jungen Jahren übt.
Ich habe dazu auch noch mal bei YouTube die Interpretation von Tatyana Nikolayeva gehört, die Bach so wunderbar interpretiert, aber die Geister spaltet… Kennst du sie?
Dass du als Klangbild noch eine andere Interpretation bringst, finde ich gelungen!! Hab ich doch erst später dafür weiter reingehört, weil mir gleich etwas Neues zu viel gewesen wäre ! Aber ja, SixBach! 😉
Deine Beiträge gäben noch so viel mehr her!
Trotzdem, ich bin inzwischen zu oft im Netz…
Einen schönen Tag! Petra
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Liebe Petra, ganz herzlichen Dank für diese ausführliche und wohlklingende Resonanz. Von einem Beitrag dieser Art habe ich seit einigen Wochen geträumt. Zunächst hatte ich ein anderes Werk vorgesehen (da ist aber eine andere Herangehensweise erforderlich – das ist zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben). Diese Sinfonia aus der c-moll Partita fand ich als Einstieg ideal. Sie ist so abwechslungsreich, dass man sie gut als Einzelstück hören kann – und dabei so kurz, dass ein halbes Dutzend Interpretation zeitlich einigermaßen verkraftbar bleiben.
Tatyana Nikolayeva kenne ich in erster Linie durch die legendäre Einspielung der 24 Präludien und Fugen (op. 87) von Dmitri Shostakovich. Ihre Bach-Interpretationen kenne ich bisher nur marginal. Dazu kann ich mich also nicht äußern.
Zu den Musikbeiträgen gehört ja sonst nicht noch ein extra Klangbild. Hier hat es sich aber angeboten, weil ich wenigstens eine gesamte Version der c-moll Partita haben wollte. Und da fand ich es reizvoll, nach dem Klavier-/Cembalo-Programm eine der seltenen Clavichord-Aufnahmen vorzustellen. Dadurch entsteht nochmals ein ganz anderer Eindruck. Es gibt übrigens eine Gesamtaufnahme des Wohltemperierten Klaviers (Teile I & II) von Ralph Kirkpatrick auf einem Clavichord.
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